Japan – Shintoismus

Am Anfang rührten Izanagi und Izanami, das Götterpaar, von einer schwebenden Himmelsbrücke, einem Regenbogen, aus, mit einem „Juwelenspeer“ im modrigen Chaos unter ihnen. Durch die Quirlbewegung verdickte langsam die Brühe. Schließlich zogen sie den Speer heraus und ließen von seiner Spitze dicke Tropfen fallen, die zu Land gerannen, zur ersten japanischen Insel. Izanagi und Izanami stiegen herab und bauten auf der Insel ein Haus, wahrscheinlich mit dem geheimnisvollen Speer als Mittelpfeiler. „Hat dein Körper irgendwelche Besonderheiten“, fragte Gott Izanagi, worauf die Göttin Izanami feststellte, dass ihr Körper an einer Stelle unvollkommen sei. Auf ihre Gegenfrage bekannt Izanagi, sein Körper wachse an einer Stelle ganz besonders. Daraufhin lief sie links um die Säule, er rechts, bis das Götterpaar auf sehr menschliche Weise hinter dem Pfeiler zusammenfand. So zeugten sie miteinander Japans Inseln, darunter auch ein Zwillings-Inselpaar und da ihre Vitalität keine Grenzen kannte, zeugten sie auch Flüsse, Berge, Pflanzen sowie zahlreiche andere Götter, darunter Amaterasu, die Sonnengöttin und den frechen Susa no wo, den Sturmgott. Bei der Geburt des Feuergottes Kagutsuchi verbrannte sich Izanami tödlich. Vergeblich versuchte Izanagi sie aus dem Totenreich zurückzuholen. Besudelt von der unreinen Unterwelt nahm er danach ein gründliches Flussbad, bei dessen Waschungen wiederum neue Götter entstanden, die wiederum Nachkommen zeugten und so Japans Inseln mit Leben füllten.
Japans Schöpfungsgeschichte offenbart eine der wichtigsten Erkenntnisse zum Verständnis des japanischen Volkes; die Einheit von Göttern, Vaterland, Volk und Natur. Dasselbe Götterpaar, Izanagi und Izanami, zeugte Amaterasu, die Sonnengöttin und Urahnin des japanischen Kaiserhauses, sowie die Inseln Japans und alles Leben auf ihnen. Als eine Naturreligion trennt der Schintoismus Japan von der gesamten übrigen Welt, denn Schintoist wird man allein durch die Geburt als Japaner. Kein Ausländer kann zum Schintoismus übertreten, denn die Voraussetzung, zu den Nachkommen der Schintogötter zu gehören, kann nicht nachträglich erworben werden.
Susa no woAmaterasus jüngerer Bruder, war ein wilder Gesell. Uneingeladen brach er in die himmlischen Gefilden der Sonnengöttin ein und zerstörte ihre Reisfelder, indem er die Bewässerungsterrassen einriss und in den Pflanzen herumtobte. Erschrocken und beleidigt floh die Sonnengöttin in ihre Felsenhöhle und damit verschwand das Licht und Finsternis senkte sich über die Welt. Verzweifelt drängten sich alle Götter vor der Felsenhöhle, doch Amaterasu überhörte ihre Bitten, herauszukommen. Daraufhin pflanzten die Versammelten einen heiligen Baum vor dem Eingang, behängten ihn mit Juwelen und einem großen Spiegel – beides gehört heute zu den kaiserlichen Kroninsignien -, ließen Vögel zwitschern, als sei wieder Tag, doch alles vergeblich. Schließlich stieg Ama no Usume, die Himmelstänzerin, auf eine Erhöhung und führte auf dieser Plattform eine zweideutige Tanzpantomime vor, die einem modernen Striptease gleichgekommen sein dürfte. Dabei brachen die Götter in schallendes Gelächter aus. Weibliche Neugier packte Amaterasu, sie öffnete die Tür ihrer Felsenhöhle ein wenig, erblickte sich im Spiegel, weibliche Eitelkeit besiegte ihre Gram und sie trat ganz aus der Höhle heraus. Die List der Götter hatte gesiegt und die Erde hatte ihre Sonne wieder.
Diese Geschichte bildet den Kern der schintoistischen Mythologie, es ist die alte Geschichte vom Kampf des Guten gegen das Böse, des Lichtes gegen die Finsternis.
Man mag darüber streiten, ob der Schintoismus überhaupt eine Religion genannt werden kann, denn er kennt zwar zahlreiche Götter, aber es fehlen ihm völlig, was alle Hochreligionen auszeichnet, ein dogmatisches Lehrgebäude und klare strenge Moralgebote. Der Schintoismus kennt keine Heilige Schrift und er fordert von seinen Anhängern keine spezifische moralische Verhaltensweise. Jeder Japaner, der sich zum Schöpfungsmythos bekennt, ist Schintoist. Dazu bedarf es keiner Taufe und keines Gottesdienstes, die es beide im engeren Sinne nicht gibt, nicht einmal des Gebetes. Wer als Japaner einen Schintoschrein besucht, gehört dazu.
Reinheit tritt im Schintoismus an die Stelle der Lehre, das Reinigungsritual übernimmt die Rolle der Liturgie. Schintoistische Weihen werden auch heute noch in Japan bei jedem wichtigen Anlass vollzogen, bei Schiffstaufen und Hoteleröffnungen, beim Häuserneubau, bei der Einweihung von Straßen und wenn die Ernte eingebracht ist. Bei all diesen Anlässen gibt es keine Predigt und keine Belehrung. Schintopriester vollziehen eine Reinigungszeremonie, indem sie Zweige eines heiligen Baumes schwenken, wodurch die Götter günstig gestimmt und alles Üble und Böse ferngehalten werden soll, genauso wie sich jeder Japaner symbolisch reinigt, bevor er einen heiligen Ort betritt, indem er seinen Mund mit fließenden klaren Wasser eines Brunnens vor dem Eingang ausspült. Dabei werden die Waschungen des Gottes Izanagi nachvollzogen.
Als Naturglaube wimmelt es im Schintoismus von Göttern, sie wohnen auf Bergen, in alten Bäumen, in Quellen, auf Reisfeldern, in Wasserfällen, überall. Jede Familie, jede Dorfgemeinschaft, jedes fruchtbare Tal steht auch heute noch unter dem Schutz der Schinto-Götter, und Amaterasu, die Sonnengöttin, unterscheidet sich von allen übrigen nur deshalb, weil der Sippenverband, den sie beschützt, das Kaiserhaus ist.
Auch in den mit Hingebung gefeierten Schreinfesten der Dörfer und Stadtbezirke, bei deren Höhepunkt die Verkörperung des örtlichen Schutzgottes in einem tragbaren Schrein von rhythmisch stampfenden und singenden jungen Männern auf den Schultern durch die Gassen geschleppt wird, lebt der Schintoismus als Brauchtum fort.